Der Kleine Frieden im Grossen Krieg

 

Oberst i Gst David Accola, Stv Kdt Gst Schule, vermochte wiederum mit spannenden Erläuterungen über das aktuelle Thema über 20 interessierte Mitglieder in seinen Bann zu ziehen.

Die Commenwealth Länder gedenken jeweils am 11. November zur 11 Stunde ihrer Gefallenen. Nicht nur an jene aus dem ersten grossen weltweiten Schlagabtausch, auch aus allen vergangenen Kriege der letzten Jahrhunderte. In den katholischen Gebieten der Schweiz und entlang des deutschen Rheins zelebriert man an diesem Tag, zur selben Stunde, den Beginn der Fasnacht. Gegensätzlicher könnte die Motivation nicht sein. Die einen feiern ausgelassen, die andern halten still Andacht.

Die Schweizerische Eidgenossenschaft hatte Verstand und Glück, (auch) von diesem weltweiten Konflikt militärisch nicht unmittelbar betroffen zu sein. Zehntausende von Schweizer Soldaten leisteten während den Jahren 1914 – 1918 Ihren Landesverteidigungsdienst und wurden zu Augenzeugen dieser Auseinandersetzung. Die Augenzeugen sind verstorben. Geblieben sind deren Aufzeichnungen und Hinterlassenschaften.

An den Weihnachtstagen 2014 jährte sich "the power of peace in the time of war" zum 100 Mal.

Als man in den Krieg zog hiess es, an Weihnachten seid ihr wieder zu Hause. Leider traf dies nicht zu. Für die Soldaten an der Front war nichts wichtiger, als ein Paket mit Sachen die sie an der Front gebrauchen konnten (Strickwesten, Unterhosen aus 1a Kamelhaarstoff, Militärsocken handgemacht, Fussschlüpfer, Wasserdichte Schlafsäcke, Brust- und Rückenschützer feldgrau).

Die Damen der besseren Gesellschaft verbrachten ganze Sonntage damit zu backen, nähen, stricken, häkeln. Es entstanden Wollsocken, Wollmützen, Schals, Kuchen, Kekse zudem wurden Weinbrand, Fusssalben, Läusepulver, Hosenträger, Handschuhe, Dauerwürste und Tabak in Pakete gesteckt und an die Front gesandt. Man nannte dies "Liebesgaben".

Die Weihnachtsgeschichte von einem unbekannten Zeitzeugen.
Es ist Weihnachten. "Im Graben beginnt man, die Kornpullen herumzureichen. Aus den englischen Gräben ist Gemurmel und verhaltenes Gelächter zu hören. Einige von uns beginnen in den Unterständen zu summen und leise zu singen, halb im Scherz halb ernst gemeint. Oh Tannenbau. Irgendwas ist anders. Es ist nicht mehr das Surren der Schrapnelle und das gewohnte ping ping ping der Kugeln, welches man erwartet. Eine sonderbareGelöstheit setzt ein.

Ich kann nicht singen, irgendetwas schnürt mir den Hals zu. Schluchzend stecke ich den Kopf in den Mantel, den ich als Kopfkissen benutze. Plötzlich singt einer allein. Laut, klar und schön. "Stille Nacht" singt er und alle fallen ein. Nach und nach singt der ganze Abschnitt mit: hunderte von Kehlen. "Schlaf in himmlischer Ruh!" Als das Lied vorbei ist trauen wir unseren Ohren nicht. Die Engländer applaudieren. Sie applaudieren! "Go on, good old Fritz" rufen sie und "encore, encore, more, more!
 
Wir singen unser ganzes Repertoire herunter, "Es ist ein Ros entsprungen, Oh Du Fröhliche, Süsser die Glocken nie klingen". Als wir bei "Herbei oh ihr Gläubigen" angelangt sind, stimmen die Engländer ein. "oh come all ye faithful", einige Latiner singen "Adeste fideles". Alles hört auf die gleiche Melodie. Und nochmal: "Stille Nacht, silent night" – jeder in seiner Sprache.
Dann braust es los. Es tost in den Gräben. Wir johlen, klatschen und schreien: "Frohe Weihnachten, frohe Weihnachten, merry christmas".

Plötzlich legt ein Leutnant unserer Kompanie seine Pistole ab, greift sich ein
Weihnachtsbäumchen und klettert über den Rand des Grabens.
Schlagartig wird es totenstill. "Was ist das? Das muss ein Trick sein" denken die Engländer. Wir rechnen damit, dass in nächster Sekunde ein Schuss fällt und der Leutnant tot umfällt: doch nichts passiert. Langsam geht er durch das Niemandsland auf die feindlichen Linien zu. "Merry christmas, englishmen" ruft er. "We not shoot, you not shoot". Wie zu seiner Unterstützung beginnen wir, unsere Tannenbäumchen und Kerzen auf den Rand der Schützengräben zu stellen. Die Engländer verstehen die Welt nicht mehr. "Spinnen die, die Krauts? Wollen die sich kollektiv umbringen? Ein treffliches Ziel für die Artillerie!" Aber nichts passiert.

Die Engländer stellen ebenfalls Lampen und Kerzen auf den Rand ihres Grabens und plötzlich geht eine Gestalt auf den deutschen Leutnant zu. Der ist inzwischen nahe dem britischen Graben stehen geblieben und setzt sein Bäumchen auf den Boden. Man hört sprechen, weitere Engländer kommen hinzu, ein Zigarettenetui wird herumgereicht, ein Feuerzeug wird gezündet.

Nach einiger Zeit kommt der Leutnant zurück. Wir quetschen ihn aus: "und, und, und?" "Waffenstillstand", sagt er. "Heute und morgen wird nicht geschossen. Wir beerdigen zunächst mal die Toten" und dann hält uns nichts mehr in den Gräben. Wir heben vorsichtig die Köpfe, winken vorsichtig zur englischen Seite hinüber. Als wir merken, dass es wirklich stimmt, dass niemand schiesst, klettern plötzlich Dutzende von verhärmten, mageren, fahlen Männern aus ihren Gräben. Sie kommen aus England und aus Deutschland.

Sie gehen aufeinander zu, schütteln sich die Hände und wünschen sich gegenseitig "Frohe Weihnachten, merry christmas!" Einige haben Tränen in den Augen. "Am ersten Feiertag verlassen wir früh die Gräben. Wir beginnen am Waldrand Gräben auszuheben. Engländer und Deutsche graben gemeinsam … Das Niemandsland beginnt sich zu leeren. Die Toten liegen in ihren frischen Betten. Ein Feldweibel hat eine Bibel und liest daraus vor. Ein Engländer hat eine Mundharmonika. Er spielt ein Kirchenlied. Es ist eine sehr feierliche Stimmung. Wir stehen, die Mützen in der Hand vor den frischen Gräbern und hören zu.
"Jetzt beginnt die Bescherung, wir tauschen Geschenke aus. Ein Gefreiter rollt ein Bierfass durch das Niemandsland auf die englischen Stellungen zu. Wir schleppen Würste, Schinkenseiten und Zigarren durch die Gegend. Die Engländer kommen mit Pasteten, Marmelade und Zigaretten. Ein Frisör stellt einen Schemel auf und schneidet uns die Haare: Engländern wie Deutschen. Wir stehen beieinander, zeigen uns gegenseitig die Fotos unserer Familien. Ich rede mit einem, der meinen Schwager in London kennt. "Der dient hier in der Nähe", weiss er zu berichten. Ich hoffe ihn noch zu sehen, lasse ihn aber erstmal herzlich grüssen.

Irgendeiner hat die Idee, ein Fussballspiel zu organisieren und so kicken am 25.12.1914 eine Deutsche und eine Englische Nationalmannschaft aus abgetakelten Kriegshelden gegeneinander.

Es ist ein Gefeixe und ein Gejohle, der ganze Abschnitt feuert seine jeweilige Mannschaft an. Ein denkwürdiges Länderspiel. Deutschland gewinnt 7:4, aber nur weil der Schiedsrichter ein Deutscher war, sagt ein Engländer.
Dass das nicht ewig so weitergehen kann, liegt auf der Hand. Als der Kommandeur unseres Abschnitts von der Sache Wind bekommt lässt er sich sofort an die Front fahren. Er wird Zeuge eines gigantischen Jahrmarktes, indem Gespräche geführt, Fotographien gezeigt, Haare geschnitten, Bärte rasiert, Stollen gegen Whisky, Würste gegen Weihnachtspudding getauscht und Fussballspiele ausgetragen werden. Er kann das nicht dulden!

Als er eingreifen will, beobachtet er wie ein kleiner, britischer Major am englischen Graben auf den Schutzwall klettert und in seine Trillerpfeife bläst. Der grelle Pfiff lässt alles erstarren! Das rührige Treiben endet abrupt. "Wem gilt der Pfiff? Besteht Gefahr?" Wir verlieren die Nerven und fliehen wie aufgescheuchte Hühner in unsere Gräben. Die Engländer stehen wie betäubt da bis der Major seine Untergebenen anbrüllt und auch sie in ihre Gräben zurücktreibt."

"Unser Leutnant und der englische Captain schossen je 3 Mal in die Luft. Der Waffenstillstand war beendet. Alles ging wieder von vorne los. Unser unbekannter Zeitzeuge verschied am nächsten Tag,
getroffen von einem Scharfschützen. Den Generälen aller Nationen war klar, es darf keinen kleinen Frieden mehr geben, ansonsten werden sie überflüssig. Sie erliessen folgenden Befehl: "Das Fraternisieren und überhaupt jede Annäherung an den Feind im Schützengraben ist verboten!" Es wurde mit dem Kriegsgericht gedroht.


Still und ernst schloss David Accola den Vortrag ab.

Unser aller Dank gilt Oberst i Gst Accola der uns kompetent und engagiert durch den Abend führte, welchen wir angeregt und in besinnlichen Rahmen ausklingen liessen.


Quelleangabe: Ein grosser Teil der in diesem Bericht geschriebenen Texte stammt aus dem Taschenbuch von Michael Jürgs, Der kleine Frieden im Grossen Krieg, Westfront 1914. Als Deutsche und Briten und Franzosen gemeinsam Weihnachten feierten. Goldmann, München 2005.

Anmerkung:
Oberst i Gst David Accola amtet als Präsident des "VEREIN STELVIO-UMBRAIL 1914/18". Im Museum des Vereins - im wunderschönen Val Müstair - hat es viele interessante Bilder, Dokumente, einen Film sowie ein Relieve (www.stelvioumbrail.ch).

Der Verein ist bestrebt, die heute noch auffindbaren Spuren des 1. Weltkrieges in der Region der höchsten Alpenpässe zu sichern, zu dokumentieren und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Überzeugen Sie sich selbst vor Ort oder besuchen Sie die oben erwähnte Internetseite auf der Sie auch die Möglichkeit haben mit dem Verein in Kontakt zu treten um zum Beispiel einen Betrag zu spenden.